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Der Weihnachtsgeist


"Wohin kommt denn der große Stern?" fragte Zappelchen. Zappelchen war sechs Jahre alt. Er hieß eigentlich Jakob, aber er wurde Zappelchen genannt, weil seine Mutter einmal, als sie ihm den Mantel zuknöpfen wollte, ungeduldig gerufen hatte: "… Ach, bitte steh still, Jakob … Was bist Du nur für ein Zappelchen!"

Der Stern war beinah ebenso groß wie er. "Lass uns einen ganz großen Stern haben", hatte die Mutter vorige Woche gesagt, "einen großen, großen Stern zur Feier des ersten Weihnachtsfestes im eigenen Heim." Das eigene Heim, ein Bauernhaus im Wiesengelände, hatten sie gemeinsam ausgesucht. Vorher hatten sie in der Stadt gewohnt, aber Zappelchens Vater fand, ein Junge müsse auf dem Land aufwachsen, wo Platz zum Tollen ist.

Jetzt war Weihnachtsabend und Zappelchens Vater hatte gerade den Stern verfertigt. Er bestand aus fünf gekreuzten Holzlatten und an jeder Latte waren elektrische Birnen befestigt. Alle umringten ihn, um ihn zu bewundern - Zappelchen, seine Eltern und Higgins, der Gehilfe. Higgins war alt und krumm, hatte sich aber als Zappelchens bester Freund erwiesen, seit sie in das Haus gezogen waren. "Ja, wohin mit dem großen Stern? "fragte die Mutter. "Stecken Sie ihn an die Spitze der großen Tanne vor dem Hause", schlug Higgins vor. "Dann leuchten die Lichter bis zur Brücke hinunter." "Ein guter Gedanke.", stimmte der Vater zu.

Das Haus stand auf einem Hügel, am Fuße des Hügels floss ein Bach und über den Bach führte eine Brücke. Die Brücke war aus Stein erbaut und hatte drei Bögen. Während Zappelchen umherhüpfte, wurde der Stern oben am Tannenwipfel angebracht. Zuerst umwickelte Higgins ihn mit einem Seil. Hierauf holte er eine Leiter, die an dem Baum lehnte, der Vater hob den Stern in die Höhe und Higgins zog am anderen Ende des Strickes, bis der Stern hoch oben war. Higgins befestigte den Stern am Wipfel. Der Vater ging ins Haus, um die Leitungsschnur einzustecken. Im nächsten Augenblick erstrahlte der Stern. Alle klatschten in die Hände und die Mutter sang "Oh Tannenbaum…" "Und jetzt habe ich noch etwas anderes für Weihnachten zu tun", sagte der Vater. "Ich auch", erklärte die Mutter.

Die beiden ließen Zappelchen und Higgins einfach stehen und wie üblich begannen sie zu reden. Das heißt, Higgins begann zu reden und Zappelchen hörte zu. Higgins redete gern und Zappelchen hörte gerne zu. Higgins hob mit der Frage an: "Siehst Du die große Scheune dort, Zappelchen?" "Ich sehe sie", antwortete Zappelchen. Man konnte sie gut sehen, denn sie stand nicht weit vom Haus entfernt - eine grosse Scheune mit schrägem Dach. "Siehst Du die Brücke?", fragte Higgins. "Ich sehe die Brücke", antwortete Zappelchen. "Hast Du gewusst, dass in jeder Christnacht um Mitternacht ein Geist zwischen der Scheune und der Brücke hin- und herwandert?" fuhr Higgins fort. "Ein Geist?" wiederholte Zappelchen kleinlaut. "Ein Geist", bestätigte Higgins fest. "Es ist der Geist meines alten Freundes Timothy Stillwagon, der vor mehreren Jahren am Tage nach Weihnachten starb."

"Warum ist sein Geist in unserer Scheune geblieben?" wollte Zappelchen wissen. Er war nicht ganz sicher, ob ihm der Gedanke gefiel, dass es hier spukte, noch dazu am Weihnachtsabend und in seiner Scheune. "Damals gehörte die Scheune nicht Euch", erklärte Higgins, "sondern es war Timothys eigene Scheune. Er war hier der Bauer, er bewohnte das Haus, und in der Scheune hielt er seine Kühe.

An jedem Weihnachtsabend gingen wir beide zusammen von der Scheune zur Brücke hinunter - wohlgemerkt, um Mitternacht -, nachdem er den Baum für seine Kinder geschmückt hatte. Auch ich hatte den Baum für meine Kinder geschmückt - meine Mutter und ich -, und dann stieg ich die Hügel hinauf, um mir seinen Baum anzusehen und er kehrte mit mir zurück, um sich meinen Baum anzusehen, denn mein Haus steht ja dort unten bei der Brücke." Es stimmte, dass Higgins Haus bei der Brücke stand. Es war ein kleines Haus mit einem hübschen Gärtchen. "Warum habt Ihr Eure Bäume gegenseitig angesehen?" fragte Zappelchen. Higgins antwortete: "Weil derjenige, der den schönsten Baum hatte, den anderen beim Festessen im Dorf zu einer Tasse Kaffee einladen musste." "Hatten Sie manchmal den schöneren Baum?" forschte Zappelchen.

Higgins lachte verschmitzt. "Keiner von uns beiden gewann jemals die Tasse Kaffee, weil jeder den eigenen Baum immer am schönsten fand. Es endete damit, dass wir immerzu zwischen der Scheune und der Brücke hin- und herliefen und uns kabbelten, bis wir es wegen der Kälte aufgeben mussten und Du wirst auch erfrieren, Zappelchen, wenn Du dastehst und Dir meine Geschichte anhörst. Geh also lieber wieder ins Haus." "Gute Nacht", sagte Zappelchen, "und ich wünsche Ihnen Frohe Weihnachten." "Ich Dir auch, Zappelchen", gab Higgins zurück. "Für mich wird es eine fröhliche Weihnacht sein, weil Du hier bist. Meine Kinder sind erwachsen und fortgezogen, meine Frau ist gestorben und ich bin seit vielen Jahren allein in meinem Häuschen bei der Brücke."

Dieses Mal werde ich, wenn ich zum Hügel hinaufschaue, kein dunkles Haus mehr sehen. Ich werde ein durchwärmtes Haus sehen, das eine Familie bewohnt und über dem Haus einen großen leuchtenden Stern. Oh, endlich haben Timothy und ich etwas zu reden!" Zappelchen wunderte sich "Soll das heißen, dass Sie sich mit ihm unterhalten?" "Natürlich", antwortete Higgins heiter. "Er und ich, wir wandern zusammen, wie immer an Weihnachten - ich in Fleisch und Blut, er im Geist." Zappelchen vernahm dies und nach wie vor wußte er nicht, ob ihm die Vorstellung zusagte, dass gerade in dieser Weihnachtsnacht ein Geist umgehen sollte. Er lief ins Haus, machte die Tür fest hinter sich zu und begab sich auf die Suche nach seiner Mutter. Er fand sie im Wohnzimmer, wo sie Silberkugeln an den Christbaum hängte.

"Mutter", sagte er mit dünner Stimme, "da bin ich." Erstaunt drehte sie sich um. "Aber Zappelchen", rief sie, "du bist ja ganz blaß. Ist dir kalt?" "Nein", erwiderte er. "Es ist nur…Herr Higgins sagt, wir hätten hier einen Geist." "Wirklich?" gab sie zurück. "Nun, wer ist es denn?" "Ein Mann, der früher hier gewohnt hat, sagt Herr Higgins, aber jetzt ist er ein Geist." Die Mutter lachte. "Ach, dieser Higgins- was er nicht alles redet!" In diesem Augenblick hörte Zappelchen den Vater oben ein Weihnachtslied singen und er rannte zu ihm hinauf. "Papa, wußtest du denn, daß wir hier einen Geist haben?" Der Vater verschnürte gerade ein in Silberpapier gewickeltes Päckchen mit rotem Band. "Erzähl mir alles", bat er.

Zappelchen begann von vorn: "Es ist der Geist von Timothy Stillwagon, der früher hier wohnte mit seinen Kindern." "Sicher hatten sie ein glückliches Familienleben", antwortete der Vater. "Hast du Angst vor Geistern, Papi?" fragte Zappelchen. "Ja nun, ich habe noch nie einen Geist gesehen", erwiderte der Vater. "Es ist dumm, sich vor etwas zu fürchten, das man nie gesehen hat. Weißt du, ich glaube gar nicht an Geister." "Herr Higgins glaubt daran", betonte Zappelchen. "Er ist ein einsamer alter Mann und vielleicht träumt er von Geistern, um etwas Gesellschaft zu haben. Lass uns sehen, ob Mutter beim Baumschmücken Hilfe braucht."

Sie gingen zusammen hinunter und wie es sich dann ergab - sie aßen am Kamin, danach kam das Bad an die Reihe und schließlich hängte Zappelchen seinen Strumpf am Kaminsims auf -, dachte er beim Zubettgehen nicht mehr an Timothy Stillwagon, sondern an den Weihnachtsmann. Wie lange Zappelchen geschlafen hatte, wusste er nicht. Als er aufwachte, war das Haus so still, dass er beschloss aufzustehen und nachzusehen, warum es so still war. Er schlüpfte in die Pantoffeln, zog den roten Bademantel an und ging zum Fenster. Der große Stern strahlte immer noch, so dass der Weihnachtsmann seinen Weg finden konnte.

Dann gewahrte er plötzlich den Geist. Langsam, ganz langsam kam eine kleine Gestalt aus der Scheune und ging zur Brücke hinunter. Zappelchen guckte so angestrengt, wie er es nur vermochte. War es wirklich… Ja, es war wirklich ein Geist, ein schattenhaft grauer Geist im Licht des Sternes. Sekundenlang wollte Zappelchen zum Bett zurücklaufen und sich die Decke über den Kopf ziehen. Dann fiel ihm ein, was sein Vater gesagt hatte und anstatt sich im Bett zu verstecken, fasste er den Entschluss hinauszugehen und sich den Geist näher anzusehen, um festzustellen, ob er sich vor ihm fürchtete.

Er brauchte mehrere Minuten, um sich anzuziehen. Dann stahl er sich zur Vordertür hinaus und er war froh, dass der große Stern die Wiese und den Weg erhellte. So schnell wie möglich lief er den Weg hinunter, wobei er nach dem Geist ausschaute. Er sah ihn nicht. Jetzt empfand er beinahe Enttäuschung. Einem Geist so nahe zu sein und ihn dann zu verlieren! Mitten im Lauf hielt er inne und überlegte, ob er nicht lieber umkehren und wieder zu Bett gehen sollte. Angst hatte er nicht - oh nein! Aber alles war so still und hinter dem Licht, das der Stern verbreitete, lag Dunkelheit. Aber Zappelchen hatte ein tapferes Herz und setzte seinen Weg fort.

Das war gut, denn nun sah er den Geist wieder. Er saß auf der Brückenmauer, er wirkte sehr klein, müde und einsam. Auf einmal fürchtete sich Zappelchen nicht mehr. Er schritt rascher aus, bis er zur Brücke gelangte. Dann blieb er stehen und sah den Geist an. Hier war das Licht des Sterns matt und er konnte den Geist nicht gut sehen. Er trat näher und immer näher heran, bis er ganz nahe war. Ja, da saß der Geist auf der steinernen Brückenmauer. Und was mußte genau in diesem Moment geschehen? Zappelchen nieste. Da zuckte der Geist zusammen. "Nanu, Zappelchen!" sagte er. "Was tust denn du hier mitten in der Nacht?" Es war keine Geisterstimme. Es war Higgins´ Stimme. Der Wind blies die Hutkrempe des Geistes in die Höhe und unter dem Hut war Higgins´Gesicht, das durchfroren und verrunzelt aussah. "Ich wollte den Geist sehen" erklärte Zappelchen, "und sie sind es bloß Herr Higgins. Ist überhaupt kein Geist da? Sie hätten nicht sagen sollen, hier wäre ein Geist, wenn sie es bloß sind, Herr Higgins."

"Na ja, ich schäme mich, dass ich sagte, es wäre ein Geist", antwortete Higgins, "wenn es nur die Erinnerung an Timothy Stillwagon ist, mit der ich in der Weihnachtsnacht wandere. Natürlich kann er nicht in Fleisch und Blut wie einst diesen Weg gehen und so machte ich aus ihm einen Geist, denn selbst ein Geist ist mehr als gar nichts, mußt du wissen. Ja, es ist wohl nur ein Gedenken, mit dem ich durch die Nacht gehe." "Was ist ein Gedenken?" fragte Zappelchen. "Das ist die Erinnerung an einen Menschen, den man nie vergessen kann, auch die Erinnerung an ein Erlebnis." "Wie der graue Pudel den wir hatten", bekräftigte Zappelchen. "Er wurde krank und starb, als wir noch in der Stadt wohnten. Aber ich vergesse ihn nie. Er hieß Toby. Ist er mein Gedenken, Herr Higgins?" "Natürlich", sagte Higgins, "genau wie Timothy für mich. Wir waren lebenslängliche Freunde, er und ich. Wir gingen zusammen fischen, als wir so alt waren wie du. Unter dieser Brücke hier saßen wir und angelten und die Fische nahmen wir zum Abendessen mit nach Hause. Wir wurden erwachsen und heirateten und wir hatten kleine Buben, die dir ähnelten und dann war eines Tages alles vorbei und nur ich blieb zurück.

Für mich ist Timothy nicht tot, Zappelchen. Nenne ihn einen Geist, oder nicht - ich sehe ihn in diesem Augenblick lebendig vor mir, weil wir Freunde waren. Solange du dich an einen Menschen erinnerst, ist er noch am Leben - in dir, wenn auch sonst nirgends, nicht wahr, Timothy, alter Freund?" Higgins wandte den Kopf und lächelte genauso, als ob Timothy neben ihm säße. "Sehen sie ihn?" fragte Zappelchen. "Ich sehe ihn", antwortete Higgins, "aber nur, weil ich weiß, wie er aussah. Du kannst ihn nicht sehen, weil du nicht weißt, wie er aussah." "Angst haben sie nicht?" "Natürlich nicht", sagte Higgins. "Glaubst du etwa, ich könnte mich vor Timothy fürchten? Solange ich lebe, sind wir dieselben Freunde wie stets."

"Aber wenn sie gestorben sind, Herr Higgins?" "Dann wirst du meiner Gedenken - am Weihnachtsabend. Wir sind ja jetzt schon so gute Freunde. Der Weihnachtsabend ist die richtige Zeit, der Freunde zu gedenken. Weihnachten ist nicht nur für Geschenke da, sondern für Gedanken." "Ich werde immer an sie denken", sagte Zappelchen. "Gut", antwortete Higgins. "Das hätte ich zu Weihnachten lieber als einen Sack voll Geschenke." Er stand auf. "Ich bringe dich nach Hause."

Er nahm Zappelchen an der Hand und als sie am Hause angelangten, wünschte Higgins abermals fröhliche Weihnachten und Zappelchen ihm auch. Dann ging Zappelchen die Treppe hinauf und zog seinen Schlafanzug an. Bevor er ins Bett kletterte, blickte er zum Fenster hinaus und sah Higgins den Weg zur Brücke hinuntergehen. "Wenn ich so groß bin wie Papi", sagte Zappelchen zu sich selbst, "werde ich am Weihnachtsabend vielleicht aus diesem Fenster schauen und Herr Higgins´Geist dort sehen. Nur wird es kein Geist sein. Es wird mein Gedenken sein." Morgen wollte er den Eltern alles erklären - wie es sich mit dem Weihnachtsgeist verhielt. 

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